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Das Mondscheinmärchen

 

Was war das nur für eine seltsame blaue Blume! Ich kannte sie nicht und konnte mich auch nicht erinnern, je eine ähnliche Blüte gesehen zu haben. Eigentlich schaute sie ganz unscheinbar aus. Unscheinbar und doch geheimnisvoll. Wenn man sie genauer betrachtete, fielen die schön geformten Staubfäden auf, die feinen Zeichnungen auf den Blütenblättern, die zarten, wunderbaren Farbnuancen.

War es ein innerer Zwang? War es Übermut? War es Neugier? Schon beugte ich mich nieder und roch an der Blüte. Ein seltsam süßlicher Duft stieg mir in die Nase. Im nächsten Augenblick hatte mich ein gewaltiger Schwindel erfasst. Alles rundum drehte sich, die Steine am Weg, die Bäume, derTeich, die Schilfhalme, alles drehte sich, als wäre es in einen Mixer geraten. Ich wurde selber zum Kreisel, der sich mit seiner Spitze hineinbohrte. Aber wohinein?

Als die Bewegung nachließ und ich wieder zu mir kam, stand ich vor einem alten Mann mit einem grünen Bart und langem, wallenden Haupthaar.

„Entschuldigung“, stotterte ich. „Ich wollte nicht stören.“

„Du störst nicht, mein Sohn“, sagte der Alte und rutschte ein wenig in seinem Thronsessel hin und her. Offenbar wussten wir beide nicht, was wir voneinander halten sollten und schwiegen eine Weile. Schließlich öffnete er wieder den Mund. „Willst du nicht wissen, wer ich bin“, fragte er.

„Wer bist du denn?“, erkundigte ich mich.

„Ich bin König Silberblick“, sagte er und machte eine weitausholende, majestätische Handbewegung. „Der Herrscher des Abendlandes.“

Als Herrscher des Abendlandes besaß er allerdings ein ziemlich kleines Königreich. Es erstreckte sich nämlich nur wenige winzige Schritte bis an den Rand der Blütenblätter. Der König und ich, wir befanden uns in der Mitte einer Blüte, die wie eine einsame Plattform hoch in den Himmel emporragte. In einiger Entfernung entdeckte ich  Riesenpflanzen, baumhohe Grashalme, aus denen bunte Blumenkelche herausragten wie Kirchturmspitzen. Und ganz in der Ferne eine dunkle Wand, hoch wie ein Gebirge: Der Wald. Ich getraute  mich nicht, einen Schritt vorwärts oder rückwärts zu machen. Ich wandte nur, erstaunt um mich blickend, den Kopf hin und her, und selbst diese vorsichtige Bewegung brachte die Blume bereits in gefährliche Schwingungen.

„Mein Königreich ist nur tagsüber so klein“, sagte der Alte, wie wenn er meine Gedanken gelesen hätte.

„Es dehnt sich aus im Mondenschein und wird bei Tage wieder klein.

Warte nur ab, bis der Abend kommt!“

Was blieb mir auch anderes übrig! Ein Schritt zur Seite, und ich wäre hinabgestürzt in eine bodenlose Tiefe. So setzte ich mich vorsichtig zu Füßen des Königs nieder, und wir blickten beide, der König mit seinen majestätisch strahlenden silbernen Augen und ich (meine Iris ist graugesprenkelt und weniger bemerkenswert), wir blickten hinaus in die unendliche Weite.

Dann brach der Abend herein, die Sonne verschwand, der Mond warf sein Licht über das Land wie silbernen Staub. Das war die Zeit der Verwandlung. Unsere Blume veränderte sich auf zauberhafte Weise. Die Pappenstiele wuchsen zu mächtigen Säulen empor, der Fruchtstand wurde zum prächtigen Schloss mit leuchtenden Fenstern und geschwungenen Treppen. Davor, im bleichen Mondlicht, ein weiter Park, in dem Brunnen flossen und stille Teiche glänzten, in dem weiße Marmorbilder standen und Einhörner weideten. Dem König  aber war auf seinem wallenden Kopfhaar eine zackige Krone gewachsen.

„Was, da staunst du!“, sagte der Herrscher des Abendlandes. „Eine solche Verwandlung hättest du nicht für möglich gehalten!“

„Wirklich bemerkenswert“, stimmte ich zu und verschwieg, dass ich den Alten noch vor wenigen Minuten für einen verrückten Aufschneider gehalten hatte.

„Jetzt werden wir eine Reise durch unsere Provinzen unternehmen!“ König Silberblick klatschte in die Hände. Da kam eine prächtige Kutsche gefahren mit silbernen Rädern und goldenem Dach und im Inneren voller seidener Kissen. In den Kissen aber saß eine wunderschöne Prinzessin mit einem reizenden Näschen und dunklen, nachtsamtenen Augen. Ein allerliebstes Lächeln umspielte ihr Gesicht wie ein lustiger Schmetterling. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mich in sie verliebt.

„Meine Tochter“, stellte der König vor.

Der Kutscher war ein dicker Marienkäfer mit rotem Umhang und sieben schwarzen Punkten darauf. Vor die Kutsche aber waren sechs Heupferde gespannt, die scharrten mit den Hufen und schnaubten und schüttelten ihre Mähnen. 

Und los ging die Fahrt! Es stellte sich heraus, dass jedes der fünf Blütenblätter, über die wir nun fuhren, zu einer Provinz herangewachsen war. In der ersten Provinz lebte Ritter Bernhard der Bär, in der zweiten Provinz wohnte Baron Adalbert der Adler, in der dritten Provinz regierte Gräfin Henriette die Hummel, in der vierten Provinz residierte Herzog Igor der Igel. Überall wurde wir herzlich empfangen, und der König warf gestempelte Mondscheine aus dem Fenster (das war hier das Zahlungsmittel).

In der fünften Provinz aber herrschte Fürst Gregor der Grausame, der trachtete dem alten König nach dem Leben. Kaum angekommen, wurden wir aus der Kutsche gezerrt und in das finsterste Burgverlies geworfen.

Da war nun guter Rat teuer!

„Gregor der Grausame wird uns bis zum Morgengrauen hier festhalten“, sagte der alte König und sein Silberblick verdüsterte sich. „Weil er selber König werden will.“

„Bis zum Morgengrauen?“, wunderte ich mich.

„Dann kommt die Sonne, und das Königreich schrumpft zusammen wie ein...wie ein...“ Die Arme des Königs fuhren hilflos durch die dumpfe Kellerluft. „Auf jeden Fall ist am Schluss jede Provinz nur mehr ein winziges Blütenblatt. Nicht auszudenken, was dann passiert!“

„O weh, o weh“, klagte die Prinzessin, und ihre Stimme hallte wie ein verstimmtes Silberglöckchen.

„O weh, o weh“, klagte auch ich.

„O weh, o weh“, klagte der König.

Als wir eine Weile wehgeklagt, gewehklagt und klaggeweht hatten, machte es blubb, und ein Frosch hockte auf den steinernen Fliesen mitten im Raum. Er hatte einen schwarzen Schnurrbart, sechs Beine und rotlackierte Zehennägeln.

„Soll ich euch befreien?“, fragte er.

„Aber natürlich!“, rief der alte König. „Je eher, desto besser!“

Ich kann meine Dienste natürlich nicht kostenlos anbieten“, quakte der hässliche Kerl und strich sich mit seinen fetten Fingern über die Schnurrbartspitzen. „Schließlich habe ich auch meine Unkosten. Das müsst ihr verstehen!“

„Das verstehen wir“, sagte der König. „Was willst du?“

„Deine Tochter zur Gemahlin!“, sagte der fette Frosch. 

„Nein, nein und dreimal nein!“, schrie da ihre Prinzessin, und ihre Glockenstimme klang gar nicht mehr silberhell, sondern schrillte durch das Gewölbe wie ein ausgefranster Wecker. Und dann fiel sie in Ohnmacht. 

„Das tut sie öfter“, brummte Silberblick ungerührt. „Ihre spezielle Art, Problemen aus dem Weg zu gehen.“

„Ihr werdet doch dieses hässliche Vieh nicht mit der Prinzessin verheiraten!“, rief ich erschrocken.

„Wenn es die Staatsraison erfordert...Wir haben keine andere Wahl“, murmelte der Alte. „Übrigens sieht manches bei Lichte besehen ganz anders aus.“

„Was heißt das: Bei Lichte besehen sieht manches anders aus?!“, rief ich empört, während ich der Prinzessin mit meinem Taschentuch Luft zufächelte.

„In diesem Land ist nichts, wie es scheint und scheint nichts, wie es ist“, sagte der Herrscher des Abendlandes, und seine majestätische Hand mit dem königlichen Siegelring schlug in die ausgestreckte, glitschige Pranke des fetten Frosches.

Im nächsten Augenblick wurden die dicken Mauern um uns immer heller und durchsichtiger, schmolzen hinweg wie Softeis in der Sonne. Und dann standen wir im Freien. Die kühle Nachtluft umwehte unsere starr gewordenen Glieder, und wenige Schritte vor uns wartete bereits die Kutsche mit den sechs stampfenden und schnaubenden Heupferden. Wir sprangen hinein, der König nahm die immer noch bewusstlose Prinzessin in den Arm, der Marienkäfer knallte mit der Peitsche, und schon ging es los!

Wie die Wilde Jagd brausten wir über das nächtliche Land, flogen über Wiesen und Felder und Moore und Wälder. Draußen huschten die  Büsche und Bäume vorbei wie Gespenster und verneigten sich und schwenkten ihre Äste. Wenn wir durch die Städte kamen, wo das Pflaster im Mondlicht glänzte, flatterten die Fledermäuse erschrocken in die Mauerritzen, und die Wetterhähne auf den Kirchtürmen wachten auf und begannen erschrocken zu krähen. Ich streckte den Kopf vorsichtig aus dem Fenster, da bemerkte ich, dass die Räder unserer Kutsche den Boden kaum berührten. Hinter uns folgte, auf sechs Beinen und mit riesigen Sprüngen, der Frosch, dem wir zu entkommen gehofft hatten. Gerade als das Mondlicht zu verblassen begann und die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne sich über den Horizont herauftasteten, erreichten wir das königliche Schloss. Die Heupferde blieben stehen, mit zitternden Flanken und Schaum vor den Nüstern, und auch der Frosch traf ganz außer Atem bei uns ein.

„Muss ich ihn jetzt küssen?“, fragte der Prinzessin, die in diesem Moment die blauen Augensterne aufschlug.

„Küssen oder gegen die Wand werfen, wer weiß das. Möglicherweise verwandelt er sich dann“, sagte der König.

„Und wenn er sich nicht verwandelt?“

„Wenn...dann...“, stotterte der Herrscher des Abendlandes.

Mehr konnte ich nicht hören. Mich erfasste wieder der schreckliche Schwindel. Als der Kreisel in meinem Kopf mit seinem fürchterlichen Drehen aufgehört hatte, saß ich mitten auf der Wiese. Ich blickte mich um. Da war der Weg, da war der Wald, da war der Teich. Und wo war die Blume? Ich konnte sie nirgends entdecken. „War alles nur ein Märchen?“, dachte ich erstaunt. „Ein Mondscheinmärchen.“

Vor mir, im knisternden Schilf, spielten zwei Libellen. Eine grüngolden wie der Sommertag, die andere silberblau wie die mondhelle Nacht.

 

Aktuelles

Lesungen Termine 

siehe www.landsberger-autorenkreis.de

  

 

Marionettentheater

"Am Schnürl" im TaG Theater Kaufering, Lechfeldstr. 40.

 

siehe www.amschnuerl.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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