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Das Wirtshaus im Sachsenrieder Forst

 

Es ging nicht mit rechten Dingen zu im Sachsenrieder Rotwald. Räuberbanden sollten dort hausen, und es war schon mancher Wanderer am anderen Ende nicht mehr herausgekommen, der am einen Ende hineingegangen war. Fuhrleute, Pecher und Köhler beeilten sich, noch vor Sonnenuntergang den Waldrand zu erreichen, und nur, wer unversehens von der Dämmerung überrascht wurde, suchte Herberg in dem einsamen Waldwirtshaus, einem düsteren, halbverfallenen Gebäude, das wenig Vertrauen erweckte.

An einem stürmischen Abend aber trafen sich drei, die den Weg aus dem Duster des Waldes nicht mehr rechtzeitig gefunden hatten, in der niedrigen Wirtsstube zusammen. Der (oder vielmehr das) Eine war ein Taschentuch, wiewohl ein besonderes Taschentuch mit einem Knoten darin. Es war im Sturmwind von der Wäscheleine gerissen und in diesen finsteren Wald hereingewirbelt worden.

„Ich bin ein besonderes Taschentuch“, sagte das Taschentuch zu seiner Nachbarin, einer Kaffeemühle. „Ich habe einen Knoten.“

„Und was bedeutet der Knoten?“, fragte die Kaffeemühle.

„Er soll mich an etwas erinnern.“

„Und an was soll er dich erinnern?“

„Ach, das weiß ich nicht mehr“, sagte das Taschentuch.

Die Kaffeemühle aber befand sich auf Wanderschaft. Sie hatte ihre Lehrzeit beendet, feine Kaffeebohnen zu wohlriechendem Pulver zermahlen, Tag für Tag und Jahr für Jahr. Nun wollte sie in die Welt hinaus, um Abenteuer zu erleben.

„Ich berge auch ein Geheimnis!“, sagte sie. „In mir steckt eine Fee.“ (Das war nichts Besonderes, denn in jeder Kaf-fee-mühle ist eine Fee versteckt. Das wussten aber die anderen beiden nicht.)

Da erglühte der Dritte im Bunde und verliebte sich Hals über Kopf in die hübsche, junge Mühle. Es war ein Seufzer, den einst ein Jüngling ausgestoßen hatte bei der Lektüre von Wilhelm Meisters Lehrjahren (Berlin und Weimar 1982). Der Seufzer stieß nunmehr sozusagen sich selber aus und errötete. Aber das sah niemand, denn Seufzer sind bekanntlich unsichtbar.

Da hockten sie also beisammen, die Drei, und versuchten sich Mut zuzusprechen und warfen ab und zu einen ängstlichen Blick auf die Türe und auf den schielenden Wirt, der mit gekreuzten Augen hinter der Theke stand. Und auf die Wirtin, rund wie eine Tonne und dick wie ein Bierfass.

„Mir kann nichts passieren“, sagte der Seufzer. „Ich bin unsichtbar. Mich sieht man nicht. Auch ein Räuber sieht mich nicht.“

„Was will ein Räuber schon mit einem Taschentuch“, meinte das Taschentuch. „Das lohnt nicht den Aufwand.“

„Welchen Aufwand?“, fragte der Seufzer.

„Jemand umzubringen“, sagte das Taschentuch.

„Aber du hast doch den Knoten!“, warf die Kaffeemühle ein.

„Was soll ein Räuber mit einem Knoten, von dem niemand weiß, was er bedeutet!“

„Aber du!“, seufzte der Seufzer und sah die Kaffeemühle mitleidig an, „du wärst eine feine Räuberbeute.“

„Ich weiß nicht, ob Räuber Kaffee mögen“, flüsterte die Kaffeemühle unsicher.

„Und du hast eine Fee in deinem Bauch“, sagte das Taschentuch und rückte gleich ein wenig ab.

Und dann kam es, wie es kommen musste! Ein Schlag an die Fensterläden, ein Poltern gegen die Türe, Flüche und blitzende Dolche. Schon kamen sie herein, die Räuber, nahmen, was sie in der Gaststube fanden: Den Pechern ihr Pech, den Holzknechten ihr Holz, den Fuhrleuten ihr Hab und Gut, und die Gräfin und ihre Kammerzofe, die sich unglücklicherweise im Walde verirrt hatten, nahmen sie auch gleich mit.

„Das gibt ein prächtiges Lösegeld“, lachte der Räuberhauptmann.

Die Wirtin wollten sie ebenfalls hinausschleppen, aber sie passte nicht durch die Türe, weil sie zu dick war. Schon waren die Räuber dabei, mit all ihrer Beute abzuziehen, da fiel der messerscharfe Blick des Anführers auf den Tisch in der Ecke.

„Sieh da!“, sagte er, „eine Kaffeemühle. Die nehme ich mit. Meine Großmutter hat demnächst Geburtstag.“

„Und ein Taschentuch!“, rief einer seiner Kumpane. „Wie praktisch. Ich habe gerade Schnupfen.“

Und ehe es sich die beiden, die Kaffeemühle und das Taschentuch, versahen, waren sie in den Schnappsäcken der Räuber, und diese mit der gesamten Beute im Dunkel des Waldes verschwunden.

Wie erging es ihnen aber weiter?

Die Kaffeemühle lebte ein geruhsames Dasein in der gemütlichen Stube der Großmutter. Sie tat Tag für Tag ihre Pflicht und zerrieb die Bohnen zu duftendem Pulver. Mit der Zeit aber wurden ihre Walzen und Zähne stumpf. Als die Großmutter, vom Räuberhauptmann, der  inzwischen befördert und Immobilienmakler geworden war, betrauert, in hohem Alter starb und ihre Wohnung aufgelöst wurde, wanderte die Kaffeemühle mit vielen anderen Dingen auf den Sperrmüll, wo sie schließlich gänzlich verrostete und verkam. Nur die Fee blieb übrig, denn Feen verrosten nicht. Sie war ihrer Kaffeemühle treu geblieben bis zur letzten Stunde. Dann machte sie sich auf den Weg, hinein in die Welt, um eine neue Behausung zu finden.

Das Taschentuch im Besitz des verschnupften Räubers lebte ein anstrengendes und aufregendes Leben. Es wurde verdreckt und gewaschen und verdreckt und gewaschen und verdreckt und gewaschen. Es wurde hergenommen, um die Münder schreiender Opfer zu stopfen, um Wunden zu verbinden, um (diesmal mit vier Knoten versehen) an heißen Tagen den Glatzkopf des Galgenvogels zu bedecken. Schließlich diente es sogar als Friedensfahne. Das war an einem stürmischen Herbsttag auf der Burg zu Huttingen, rundum eine Schwadron Soldaten, und der Räuberhauptmann und seine Kumpane hatten seit drei Wochen nichts anderes mehr gegessen als Grashalme, Sauerampfer und Rattenfleisch. Die Übergabe aber half ihnen nichts. Sie kamen alle an den Galgen. Das Taschentuch jedoch, schon vielfach zerrissen, war auf dem Burgturm vergessen worden. Es wehte noch jahrein jahraus, bis es sich schließlich, vom Regen durchweicht, vom Wind zerfetzt, vom Frost durchfroren, in seine Fasern auflöste und endgültig in den Taschentuchhimmel einging.

Wie aber erging es dem Seufzer? Er war nach dem Überfall im Waldwirtshaus den Räubern eine Weile klagerufend gefolgt. Schließlich wurde er, sich in Liebe zur Kaffeemühle verzehrend, immer schwächer und schwächer, verrauschte im Rauschen der Gräser, verhauchte im Säuseln des Windhauchs, vergluckste im Gurgeln des Baches.

Schön wäre es natürlich gewesen, wenn sich die drei noch einmal gesehen hätten. Wenn der Seufzer auf seinem Flug durch die Welt das Taschentuch am Burgturm getroffen, wenn das Taschentuch den Weg zur Räuberoma und ihrer Kaffeemühle gefunden, wenn der Seufzer sich gar mit der Mühle vermahlen beziehungsweise vermählt hätte...Aber nichts dergleichen geschah, denn solche Dinge passieren nur im Märchen.

 

Aktuelles

Lesungen Termine 

siehe www.landsberger-autorenkreis.de

  

 

Marionettentheater

"Am Schnürl" im TaG Theater Kaufering, Lechfeldstr. 40.

 

siehe www.amschnuerl.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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