www.helmutglatz.de
www.helmutglatz.de

Hieronymus,der Zwergenriese

 

Im Wasgenwald lebte vor langer, langer Zeit ein riesiger Riese. Er war so groß, dass die größte Tanne gerade ausreichte, um ihm als Zahnstocher zu dienen. Noch größer und gewaltiger aber war seine Riesenfrau. Wenn sie die Luft durch ihre geblähten Nüstern stieß, dann wurden die Bäume rundum entwurzelt, die Wolken stoben über den Himmel wie eine aufgescheuchte Hühnerschar, und auf den entfernten Kirchtürmen begannen die Wetterhähne zu krähen und entsetzt ihr Gefieder zu sträuben. Ansonsten waren die beiden nicht gefährlich. Sie hausten tief im Wald und ernährten sich von den vitaminreichen Wurzelstöcken der Bäume und von den abgeschlagenen Ästen, die die Holzfäller im Frühjahr liegengelassen hatten.

„Ich bin der größte Riese der Welt!“, grunzte Rabaukus Guglhupf (so hieß er), und stippte mit seinen dicken Riesenfingern einen Jägerstand in die Luft, dass die beiden Jäger, die zufällig darauf saßen, viele hundert Meter weit durch die Luft flogen. „Und unsere Kinder sind die stärksten Riesenkinder, die jemals auf dieser Erde gelebt haben.“

Das aber war gelogen. Rabaukus Guglhupf und seine Frau, sie hieß Rebekka Guglhupf-Sauerkraut, hatten nämlich nur ein einziges Kind. Und das war so klein, dass die Eltern es mit ihren kurzsichtigen Augen kaum sehen konnten.

Anfangs lag Hieronymus in einer moosgepolsterten Nussschale, und er wäre glatt verhungert bei dem schwerverdaulichen Riesenessen, wenn ihm nicht die Ameisen etwas Nährsaft und die Bienen ein wenig Nektar eingeflößt hätten. In dem Kerlchen aber steckte, so winzig es auch war, wahrhaftig der Mut und die Abenteuerlust eines Riesen. Kaum der Nussschale entwachsen, kroch Hieronymus bereits stundenlang durch die Maulwurfsgänge auf der Waldwiese, sprang, an die Mähne seines dressierten Haselmausponys geklammert, über den Wildbach und verteidigte sich siegreich, eine spitzige Tannennadel schwingend, gegen einen angreifenden Wespenschwarm.

Als er fünf Jahre alt war, aber immer noch nicht größer als ein Laubfrosch, beschloss er, in die weite Welt hinauszuziehen.

„Was fiepst du in mein Ohr wie eine Mücke?“, dröhnte Rabaukus Guglhupf. Da schrie Hieronymus, so laut er konnte, denn sonst hätte ihn sein schwerhöriger Riesenvater nicht verstanden: „Ich bin jetzt alt genug“, schrie er, „um auch ohne euch auszukommen. Ich will in die Welt hinaus und Abenteuer erleben.“

„Das ist recht, mein Sohn“, sagte Rabaukus. „Schließlich leben wir im Zeitalter der Globalisierung. Jeder Riese, und sei er noch so klein, muss etwas von der Welt gesehen haben, wenn er die Zeichen der Zeit verstehen will.“

Da baute sich Hieronymus aus Schilfhalmen und Zweigen ein kleines Floß und fuhr damit den Bach hinunter. Das war eine lustige Fahrt! Am Ufer zogen die Büsche und Bäume und Gräser und Blumen vorbei wie lebende Bilder, und das Wasser gurgelte und gluckerte und gluckste und spritzte und sprühte und plätscherte und murmelte und blubberte. Und manchmal steckte ein Karpfen seinen dicken Kopf aus den Wellen und fragte: „Was bist denn du für ein seltsamer Frosch mit deinem gestrickten Pullover und der blauen Pudelmütze auf dem Kopf?“ (Die Wahrheit war, dass die Kleider in einer Zwergen- Manufaktur angefertigt worden waren.)

„Ich bin kein Frosch, sondern...“ Mehr konnte Hieronymus nicht sagen, denn da war sein Floß schon weitergetrieben, und der Karpfen blieb zurück und glotzte nur mit stumpfsinnigen Fischaugen hinter ihm her. Dann wurde das Fahrzeug plötzlich hochgehoben, höher und höher, es war auf ein Mühlrad geraten, und gleich darauf ging es abwärts, tief hinunter in die brodelnde Gischt. Hieronymus strampelte und hampelte und spuckte und schnaufte in den grässlichen Wasserwirbeln; sein Gefährt war schon längst in unzählige Teile zerbrochen. Hinter dem Mühlenwehr aber, unter den überhängenden Wurzeln einer dicken Weide, lauerte ein gewaltiger Wels. Der öffnete sein riesiges Maul und schwupp, hatte er Hieronymus verschluckt.

So landete der Zwergenriese im Bauch des Riesenfisches. Wer jetzt aber meint, es wäre zu Ende gewesen mit ihm, täuscht sich gewaltig. Keine scharfen Raubfischzähne, keine giftigen Magensäfte! Würzig duftender Tabakrauch schlug dem kleinen Kerl entgegen. Hinter einem rustikalen Mahagonischreibtisch hockte, von dichten Rauchwolken umhüllt, ein alter Elch.

„Um deine Fragen vorwegzunehmen“, brummte er, „ich bin ein alter Elch, und ich denke nach.“

„Und worüber denkst du nach?“, erkundigte sich Hieronymus.

„Über dieses und jenes und alles und nichts“, sagte das Tier und stieß eine solche Menge von Tabaksqualm aus, dass man meinte, es würde auf einer Wolke schweben. „Was ist, beispielsweise, die Zeit? Ein unbeweglicher Eisblock, durch den wir uns bewegen wie Salamander in einer Gemüsebrühe.“

„Ich habe noch nie einen Salamander gesehen, der sich in einer Gemüsebrühe bewegt“, warf Hieronymus ein.

Der alte Elch trommelte mit seinen Vorderläufen auf den Schreibtisch und sträubte die Nackenhaare. „Unterbrich mich nicht!“, rief er. „Und was sind wir? Sternenmüll aus dem unendlichen Kosmos!“

„Wie komme ich nur hier wieder raus?“, fragte Hieronymus, dem es etwas unheimlich wurde.

„Ich werde dir die Zukunft lesen“, sagte der alte Elch. „Karo oder Herz?“ Flugs hatte er die Karten herbeigeholt. „Dame oder As?“ Schon war das Blatt gezogen. „Du wirst im Magen eines Fisches landen“, prophezeite er schließlich und schaute Hieronymus mit seinen weisen Prophetenaugen vielsagend an.

„Das bin ich doch schon!“, warf Hieronymus ein.

„Unterbrich mich nicht!“, brüllte der Elch und trommelte mit seinen Vorderhufen auf die Schreibtischplatte. „Dann wird ein Fischer den Fisch fischen, ich meine, ein Angler den Fisch angeln, und du wirst auf dem Tisch des Königs landen. Die Tochter des Königs wird dich küssen und heiraten. Schließlich wirst du in den Krieg ziehen und alle Feinde besiegen.“

„Und wann wird das geschehen?“, fragte Hieronymus. Der Elch antwortete nicht. Das Wahrsagen hatte ihn angestrengt, er war eingeschlafen.

Das Leben im Bauch des Fisches war übrigens keineswegs so eintönig, wie es Hieronymus befürchtet hatte. Im Gegenteil! Es herrschte ein reger Verkehr. Käfer, Kaninchen und Kanalratten kamen und gingen, Radfahrer und Straßenbahnen fuhren vorbei, Hausierer priesen Staubsauger und Zeitschriften an, Bettler baten um eine milde Gabe, und einmal in der Woche kam der Lieferwagen von Bofrost mit frischem Gemüse und tiefgefrorenem Apfelstrudel. Nachdem Hieronymus einige Tage gewartet und immer noch kein Angler den Fisch herausgefischt hatte, beschloss er, selbst die Initiative zu ergreifen. Er hatte Glück, denn direkt vor dem Mahagonischreibtisch des alten Elchs befand sich die Straßenbahnhaltestelle. Da hüpfte er, sozusagen als blinder Passagier, in die Jackentasche des Straßenbahnschaffners und ließ sich ins Freie hinaustransportieren.

„Was ist denn das für eine komische Puppe?“, rief Sabrina erstaunt. Es war viele Stunden später, und die Uniform des Schaffners hing schon seit geraumer Zeit am Garderobehaken im Vorraum des gemütlich eingerichteten Einfamilienhauses. Zwei spitze Kinderfinger umfassten Hieronymus und zerrten ihn ans Tageslicht. „Ein Weihnachtsmann! Papa hat einen winzigkleinen Weihnachtsmann mitgebracht!“, rief Sabrina mit fröhlicher Stimme. Das Mädchen hatte struppige, blonde Haare, viele Sommersprossen um die Nase und war die Tochter des Straßenbahnschaffners. Sie durchsuchte gerade die Taschen der Uniformjacke nach Süßigkeiten (kein schöner Zug von ihr).

„Ziemlich dreckig. Sicher schon gebraucht. Wahrscheinlich vom Flohmarkt“, sagte Sabrinas Mutter, als sie Hieronymus, der sich vor Schreck stocksteif gestellt hatte, prüfend anschaute. „Und den Bart hat er auch verloren.“

„Aber er ist doch so niedlich!“, rief Sabrina. „Darf ich ihn an den Christbaum hängen?“

„Tu, was du nicht lassen kannst!“, schallte die Stimme der Mutter, die inzwischen wieder in die Küche gegangen war und mit dem Geschirr klapperte. „Aber zur Wand hin, damit man ihn nicht sieht!“

Die Kinderfinger, die ihn vorhin aus der Tasche geholt hatten, umfassten Hieronymus und stachen einen Draht durch seine schöne Pudelmütze. Und dann hing er an dem schwankenden Fichtenzweig zwischen Strohsternen und Lametta, Glaskugeln und Zimtsternen. Oh, wie war das schön! Als am Abend die Kerzen angezündet wurden, als die Kinderaugen mit den Glaskugeln um die Wette strahlten, als die Wunderkerzen tausend knisternde Sterne versprühten, als die Fichtenzweige dufteten und sich die Holzfiguren am Weihnachtsbaum in der heißen Luft, die von den Kerzen aufstieg, drehten und wendeten... „Bin ich nicht schön?“, rief ein kleiner, pausbäckiger Engel, der am Nachbarzweig hing, und schaute Hieronymus mit seinen schwarzen Lackaugen lustig an. Dem Zwergenriesen wurde ganz warm ums Herz. Das aber kam von der Kerze, die nahe hinter ihm brannte.

„Wenn ich aus Zucker wäre, würde ich jetzt sicher schmelzen und mich womöglich in ein Karamellbonbon verwandeln“, seufzte Hieronymus und bekam einen heftigen Hustenanfall. Daran war das Räuchermännchen schuld, das auf dem Tisch stand und süßliche Rauchschwaden ausstieß. Und als Sabrina auf ihrer Blockflöte Jingle bells blies, tropften ihm gar Tränen der Rührung aus den Augen. Kurzum, es war ein wunderbarer Weihnachtsabend.

Nach den Feiertagen durfte Hieronymus noch eine Zeitlang an seinem Fichtenzweig hängen, dann wurde der Baum abgeleert. Der pausbäckige Engel, die Strohsterne, die Glaskugeln, die buntlackierten Holzfiguren, sie alle wanderten in die verschiedenen Schachteln. Zum Schluss hing Hieronymus als einziger einsam und allein in seiner heimlichen Ecke.

„Den Weihnachtsmann nicht!“, sagte die Mutter, als die Finger des blonden Mädchens nach ihm greifen wollten.

„Aber warum denn nicht?“, fragte Sabrina.

„Er ist zu hässlich. Er kommt mir nicht in die Schachtel“, bestimmte die Mutter. „Außerdem hat er so...so komische Augen.“

So blieb Hieronymus an seinem Zweig hängen und wurde einige Tage später mitsamt dem Baum zum Recyclinghof gebracht. Da hing er nun an seinem abgenadelten, dürren Ast, unter sich Pfützen und schmutziger Schnee, und fror erbärmlich in seinem gestrickten Pullover.

„Ei, wen haben wir denn da?“, zischte auf einmal, die Abenddämmerung war bereits hereingebrochen, eine unheimliche Stimme. „Einen Weihnachtsmann! Einen kleinen, verirrten Weihnachtsmann!“

(Wer wissen will, wie die verirrte Weihnachtsgeschichte weitergeht, kann das im Buch nachlesen: Das Wirtshaus im Sachsenrieder Forst.)

Aktuelles

Lesungen Termine 

siehe www.landsberger-autorenkreis.de

  

 

Marionettentheater

"Am Schnürl" im TaG Theater Kaufering, Lechfeldstr. 40.

 

siehe www.amschnuerl.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Druckversion | Sitemap
© Helmut Glatz