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Wald in Gefahr

Wald in Gefahr

 

Es gibt unzählige Bücher zum Lesen. Ernste Bücher, heitere Bücher, spannende Bücher, langweilige Bücher, dicke Bücher, dünne Bücher. Es gibt aber auch Bücher, in die man hineinsteigen kann. Ja, in die man geradezu hineingezogen wird. Solche Bücher sind extrem selten und, wie man sich vorstellen kann, ziemlich gefährlich. Aus diesem Grund werden sie unter strengstem Verschluss gehalten. Es war sicher ein sträfliches Versehen, als ich eines Tages von der Fernleihe ein solches Buch zugeschickt bekam. Außen sah es ganz harmlos und unverdächtig aus. Kaum aber wollte ich es aufschlagen, wurde ich von einem unwiderstehlichen Sog erfasst, und im nächsten Augenblick befand ich mich...ja, wo befand ich mich?

In einem dichten Blätterwald. Es säuselte und wisperte und flüsterte und raschelte und rauschte und brauste rundum, dass mir ganz unheimlich zumute wurde. Was sollte ich nur tun? Das beste war, auf dem Absatz kehrt zu machen und wieder hinauszuflüchten. Dorthin, woher ich gekommen war. Aber als ich mich umwandte - kein Ausgang, keine Türe, kein Weg. Nur Baumstämme und Astwerk und Zweige und Blätter und Halme und Kraut und Rüben.

„Wenn ich wenigstens jemand nach dem Weg fragen könnte“, überlegte ich und blickte  hilfesuchend in das Dickicht. Bewegte sich da nicht etwas? Heimlich, hinter den Baumstämmen? Natürlich! Ein Zylinder. Und darunter ein weißes Kaninchen. Natürlich! Ein Kaninchen. Und darüber ein schwarzer Zylinder. Das Tier hoppelte zu einer kleinen, weidenbestandenen Senke hinunter.  

„Kaninchen sind neunmalklug und naseweis. Sie wissen alles“, dachte ich mir und eilte hinter dem seltsamen Wesen her. Da ging es die kreuz und die quer, nach links und nach rechts, bergab und hinter der Senke wieder bergauf. Nicht, dass wir gerannt wären. Ich stellte mich so, wie wenn ich das Kaninchen gar nicht sehen würde. Und das Tierchen tat, wie wenn es nicht wüsste, dass es verfolgt würde. An der Art, wie es sich heimlich umblickte, wie es hin und wieder nervös an seinen schwarzen Handschuhen zupfte, merkte ich aber, dass es mich entdeckt hatte. Und dann war da eine Höhle zwischen den Wurzeln einer mächtigen Buche, und das Tier war verschwunden.

Sollte ich ihm folgen? Was blieb mir anderes übrig, wenn ich eine Auskunft haben wollte! Ich bückte mich und krabbelte auf allen Vieren durch den engen Schlund. Schließlich stieß ich auf eine dicke, knarzende Türe, und dahinter saßen sie im matten Schein einer rußenden Petroleumlampe: Der Dachs, der Maulwurf, die Zwergspitzmaus, die Gelbbauchunke. Das Kaninchen hatte gerade Platz genommen. Es tat, wie wenn es schon lange hier sitzen würde. Aber ich bemerkte doch, dass seine Schnurrbarthaare zitterten, und in seinen Augenwinkeln glänzte noch das Licht des hellen Sommertages. Das Schlimmste war, dass die Tiere zum Steinerweichen heulten. Die Tränen rollten aus ihren runden Kulleraugen, tropften über Schnauzen und Schnurrbarthaare und sammelten sich auf dem Fußboden zu einer großen Pfütze. Ob ich wollte oder nicht: Bei so viel Traurigkeit musste ich unwillkürlich mitheulen.

„Warum seid ihr denn so traurig?“, fragte ich schluchzend. Sie schauten mich einen Augenblick erstaunt an und schwiegen.

„Wissen Sie es denn nicht?“, bequemte sich schließlich der Dachs zu sagen.

„Nein, nein!“, stotterte ich. „Ich bin fremd hier.“

„Sie gehören auch dazu!“, quakte die Unke nicht gerade freundlich.

„Wozu gehöre ich? Bitte sagt mir, wozu ich gehöre!“, flehte ich, als die Tiere sich schweigend wieder ihrem Schmerz hingaben.

„Zu den Immobilienmaklern, zu den Spekulanten, zu den Grundstückshaien, die unseren Wald zerstören wollen“, bequemte sich schließlich das Kaninchen zu sagen und schneuzte sich in sein weißes, seidenes Taschentuch. 

„Ich bin kein Immobilienmakler!“, rief ich.

Das überzeugte die anderen keineswegs. „Ihr Menschen seid alle gleich“, knurrte der Dachs. „Ihr denkt nur an euren Vorteil. Nur an Geld und Gewinn. An uns arme Tiere verschwendet ihr keinen einzigen Gedanken.“

Sollte ich zu einer Notlüge greifen?

„Ich bin kein Immobilienmakler, sondern ein Mensch“, rief ich. „Immobilienmakler sind keine Menschen. Sie sehen nur so aus.“

„Das sollen wir Ihnen glauben?“, wisperte die Zwergspitzmaus zweifelnd.

„Wenn die Immobilienmakler keine Menschen sind, dann bin ich kein Dachs, sondern ein Elefant“, sagte der Dachs. „Ein Elefant, der nur so aussieht wie ein Dachs.“

„Und wie ist es mit den Feldhasen und den Kaninchen?“, fiel mir ein. „Sie ähneln sich aufs Haar und sind doch zwei völlig verschiedene Tierarten.“

„Da hat er recht!“, nickte das Kaninchen.

„Kurz und gut, unser schöner Wald soll abgeholzt werden. Für ein Gewerbegebiet,“ meinte der Maulwurf und begann wieder zu schluchzen.

„Und ihr könnt nichts dagegen tun?“, fragte ich.

„Was sollen wir armen, kleinen Waldbewohner schon unternehmen!“, klagte er.

„Vielleicht können Sie einmal mit ihnen reden“, schlug das Kaninchen vor. „Die Kerle sind gerade oben. Ich habe sie kommen sehen, bevor ich mich hierher flüchtete.“

Was blieb mir anderes übrig? Ich kroch, von den Tieren gefolgt, den langen Gang hinaus und lief vor bis zum Waldrand. Tatsächlich, da waren sie, die vornehmen Herren mit den grauen Anzügen und den dezenten Krawatten. Ich kannte sie aus der Zeitung: Direktor Müller-Unwohlsein von der Baugesellschaft, Robert Raffke, der Vorsitzende der Vereinsbank, Wendelin Windei von der Architektenkammer, Landrat Schreckenstein und alle die anderen aus Wirtschaft, Verwaltung und Politik. Nebst den dazugehörigen Sekretärinnen, Sachbearbeitern und Chauffeuren. Es war eine ansehnliche Menschenmenge, die da auf der Lichtung versammelt war.

 

Aktuelles

Lesungen Termine 

siehe www.landsberger-autorenkreis.de

  

 

Marionettentheater

"Am Schnürl" im TaG Theater Kaufering, Lechfeldstr. 40.

 

siehe www.amschnuerl.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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