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Der Geschichtentopf

 

Hinter dem Dorf, am Fuße des Stoffersberges, war ein dunkler, alter Wald. In der Mitte des Waldes war ein altes Haus. In diesem alten Haus war eine dunkle Stube. In der Stube war ein alter Herd. Auf dem Herd stand ein alter Topf. Das war der Geschichtentopf.

Der Wald gehörte dem Grafen, die alte Hütte aber und der alte Herd und der alte Topf gehörten dem Kohlenbrenner.

Da hockten wir also zusammen, wenn es draußen nichts zu tun gab, der Kohlenbrenner und ich, und ließen den Kessel dampfen und kochten die schönsten Geschichten. Geschichten von Hexen und Feen, von Zwergen und Riesen, von Königen und Zauberern, von Wanderburschen und Aushilfskellnern. Was sich eben so ergab. Der Kohlenbrenner wusste, was in die Geschichten gehörte. Da waren blaue, buntschillernde Federn vom Eichelhäher, rote, glänzende Hagebutten, weiße Birkenrinde, Alraunenwurzeln und Fledermauszähne. Süß wie Honig und salzig wie Tränen, bitter wie Birkenlaub und scharf wie Pfeffer schmeckten die Geschichten, und sie rochen nach Meeren und Mooren und Wäldern und Wüsten und Höhlen und Bergen und Zauberei und Abenteuern und fernen Ländern.

Eines Tages aber stand ein Kesselflicker vor der Hütte des alten Kohlenbrenners. „Dein Topf ist ein Sanierungsfall“, sagte er. „Der Boden durchgebrannt, die Wand verkohlt, der Henkel locker. Wenn du einverstanden bist, repariere ich das marode Ding. Dann ist der Kessel wieder wie neu, und bis heute abend hast du ihn zurück.“ Er klemmte sich den Topf unter den Arm und verschwand schnurstracks im Dunkel des Waldes.

Gut Ding braucht Weile. Es wurde Abend, es wurde Morgen, es wurde wieder Abend. Wer aber nicht kam, war der Kesselflicker.

„Was machen wir nur?“, fragte der Kohlenbrenner, nachdem wir fünfundfünfzig Partien Mensch ärgere dich nicht gespielt hatten und uns vor Langeweile und Müdigkeit die Augen tränten.

„Es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen uns auf den Weg machen, um den Kessel zu suchen“, sagte ich.

 

Gesagt, getan. Auf der Waldwiese trafen wir den Maulwurf. „Unter der Erde ist er nicht, euer Topf“, grunzte der schwarze Geselle. „Da kenne ich mich aus wie in meiner Hosentasche.“

„Du hast ja gar keine Hosentasche“, warf ich ein.

„Weil ich keine Hose habe“, brummte er ärgerlich. „Wenn ich eine Hose hätte so wie du, hätte ich auch eine Tasche. Und darin würde ich mich auskennen.“

In den dichten Baumwipfeln sprang einer herum mit rostrotem Fell und buschigem Schwanz. Das war der Eichkater. „Hier ift er nicht, euer Topf“, lispelte er. „Da kenne ich mich auf wie in meiner Weftentasche.“

„Du hast ja gar keine Westentasche“, warf ich ein.

„Weil ich keine Wefte habe, du Dummkopf“, sagte der Eichkater. „Mein Großvater hatte eine Wefte. Eine grüne Wefte mit einer Weftentasche und einer Uhr darin an einer goldenen Kette.“ Das war natürlich gelogen. Eichkater nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau.

Wir gingen weiter, immer weiter in den Wald hinein. In der Mitte des Waldes, wo die Bäume am dichtesten waren, trafen wir Munin, den Raben.

„Leise!“, krächzte er und streckte seinen Kopf über den Nestrand heraus. „Ich bin gerade am Brüten. Sieben allerliebste Eier. Aber wenn man sie erschreckt, werden sie später Legastheniker.“

„Die Eier?“, fragte ich verwundert.

„Die Küken, wenn sie geschlüpft sind“, knarzte der Rabe.

„Und der Kesselflicker? Hast du den Kesselflicker gesehen“, erkundigte sich der Kohlenbrenner.

„Keine Frage!“, krächzte Munin, der weise Rabe. „So wie du den Fall schilderst, kann es sich nur um Mac Kinsey handeln.“

„Mac Kinsey?“ Wir rissen erstaunt die Augen auf.

„Mac Kinsey, der krumme Hund. Er ist scharf auf abenteuerliche Geschichten.“

„Und wo ist er jetzt?“, rief ich. „Wie können wir ihn finden?“

„Überhaupt nicht“, sagte der Rabe. „Er ist überall und nirgendwo. Ihr könnt euren komischen Topf schon einmal abschreiben.“

Das aber taten wir nicht. „Wir müssen uns trennen“, meinte der Kohlenbrenner. „Du suchst überall, und ich suche nirgendwo. Und wer den Topf als erster findet, hat gewonnen.“

Des war ich zufrieden. Wir verabschiedeten uns mit einen festen Händedruck, dann rannte der Köhler nach nirgendwo, während ich mich nach überall wandte.

 

Was sah ich da nicht alles! Auf einer Lichtung im Wald stand das Nichts und sang den Andachtsjodler, unter den Wurzeln der Weltenesche kämpfte der rotgraue Krempling gegen den gelben Speitäubling, am Bachufer gab das Vergissmeinnicht Autogramme, und im Schatten des Mondlichts sammelten die Natifhaften die Schreie der ungeborenen Schmetterlinge. Wo aber war Mac Kinsey, der krumme Hund? Dreimal dürft ihr raten! Aber ihr erratet es nicht, auch wenn ihr viermal ratet! Ich entdeckte ihn auf der Frankfurter Buchmesse inmitten einer dichtgedrängten Menge neugieriger Menschen. Alphabeten, Analphabeten, Lektoren, Leser, Lehrer, Journalisten, Jesuiten, Kommunikationskoedukatoren und Korrelationskoeffizienten. Auch ein Verleger war darunter. Mac Kinsey aber hatte den Kessel aktiviert und zauberte eine Geschichte nach der anderen aus dem Gefäß.

„Ein Genie!“, flüsterten die Leute andächtig. „Der neue Stern am Poetenhimmel!“

Ich aber war nicht mehr zu halten. Gewaltsam drängte ich mich durch die Menge. „Der Mann ist ein Betrüger!“, schrie ich wütend. „Das ist unser Kessel. Er hat den Kessel gestohlen. Er kann gar keine Geschichten erzählen!“

„Was soll denn das?“, fragte der Verleger und wurde ganz verlegen.

„Ein Verrückter! Rette sich, wer kann!“, krähte eine dürre Lektorin.

„Ein Aktionskünstler. Er will uns verkesseln. Ich meine, verkohlen“, schrie ein angehender Legitimationsrat.

„Nun lasst uns alle mal zusammensetzen und erst mal die Problematik in aller Ruhe besprechen“, schlug ein schon etwas betagter Sozialpädagoge vor.

Mac Kinsey hatte den Topf mit geifernden Fingern umfasst und starrte mich aus seinen schwarzglänzenden Augen böse an. Aber das sollte ihm nicht helfen! Blitzschnell packte ich den Henkel. Ein kräftiger Ruck, schon hatte ich ihm den Kessel entrissen. Ich wandte mich zur Flucht. Dem Verleger, der direkt hinter mir stand, schlug ich den Topf über den Schädel, stach die Lektorin mit der Spitze eines Bleistiftes nieder, rannte den Legitimationsrat über den Haufen, und dann raste ich, den Topf hinter mir herschleifend, dem Ausgang zu. Hinter mir eine johlende Menge. Hysterische Schreie, wütende Flüche, piepsende Handys, quietschende Schuhsohlen, heulende Alarmsirenen. Ich quetschte mich durch die Türe nach draußen und flüchtete keuchend die Eschernheimer Landstraße hinunter. Wie lange würde es dauern, bis sie mich erwischten? In der Ferne hörte ich bereits die Martinshörner der Polizei, irgendwo vor mir hatte eine Antiterroreinheit eine Absperrung errichtet, auf den Dächern rundum tauchten Scharfschützen auf. In diesem Augenblick fasste mich eine harte, rußgeschwärzte Hand am Jackenärmel und zerrte mich in einen dunklen Kellereingang.

„Du hier?“, rief ich und blickte erstaunt in die feurigen Augen des Kohlenbrenners. „Wir sind umzingelt. Sie werden uns bald entdeckt haben!“

„Keine Bange!“, lachte mein Retter. „Wir sind hier nirgendwo. Da findet uns keiner.“

 

Was soll ich weiter noch erzählen? Unbehelligt erreichten wir den Stoffersberg, frohgemut zogen wir in die Köhlerhütte ein. Dann setzten wir den Kessel auf und kochten und brutzelten, dass die Geschichten nur so aus dem Topf purzelten.

Was aber ist mit Mac Kinsey, dem krummen Hund, geschehen? Er hat seine Schriftstellerkarriere aufgegeben und betätigt sich seitdem als Unternehmensberater.  

    

 

 

 

 

Aktuelles

Lesungen Termine 

siehe www.landsberger-autorenkreis.de

  

 

Marionettentheater

"Am Schnürl" im TaG Theater Kaufering, Lechfeldstr. 40.

 

siehe www.amschnuerl.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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