Leseprobe Gesichtsverkäufer
Der Blüthenleser
Am Ende unserer Straße wohnt Herr Nießwurz. Joachim Nießwurz ist Blüthenleser.
Eigentlich ist er pensionierter Postbeamter, seit seiner vorzeitigen Ruhestandsversetzung aber widmet er sich der Blüthenlese. Übrigens ist er der einzige noch lebende Blüthenleser im deutschen
Sprachraum. Wer kennt, vielmehr liest heutzutage noch Ferdinand Maria Blüthen? Der Spätromantiker, einst ein gefragter und vielversprechender Autor, wuchs in behüteter Umgebung auf. Er verbrachte
seine Kindheit in Bielefeld; sein Vater war wohlbestallter Apotheker am Geflügelmarkt, die Mutter eine transzendentierende Hausfrau, die gelegentlich kleine Deckchen mit Mustern umhäkelte. Schon
während seiner Zeit auf dem „Teutschen Realgymnasium“ schrieb Ferdinand Maria vaterländische Gedichte. Später studierte er Geisteswissenschaften in Jena, veröffentlichte auch das eine oder andere bei
Diederichs:
„Wir schwingen die Mützen
und springen durch Pfützen,
wir singen ein Liedel
und streichen die Fidel,
wir tanzen durchs Städtel
mit Hänsel und Gretel...“
Diese Zeilen, auch vertont, wurden gerne in Studentenkreisen gesungen. Seine
spätere Gedichtsammlung „Verse für das fromme Kinderherz“ fand Eingang in manches erbauliche großbürgerliche Wohnzimmer. Viktor Hagel, ein damals recht bekannter Illustrator, versah das Büchlein mit
ausdrucksvollen Zeichnungen. Aber wer schaut heute noch Viktor Hagel an! Nießwurzens Schwager Peter Pfronz ist der letzte Hagel-Schauer. (In Hadersdorf weist noch eine Viktor-Hagel-Gasse auf den
Illustrator).
Bereits während des Studiums konnte Ferdinand Maria Blüthen eine Affinität zu
gewissen Etablissements nicht verleugnen, weshalb er von boshaften Spöttern damals auch „Sumpfblüthe“ genannt wurde. Eine Verbindung mit Dorothea Enderlein, einer ostpreußischen Pastorentocher,
verlief unglücklich. Später verschwand Blüthen aus dem Blickfeld der literarisch interessierten Öffentlichkeit, und die Stimme des vielversprechenden Sängers verstummte. Die letzte Nachricht stammt
aus Deutsch-Südwestafrika, dem nachmaligen Namibia, wo in den Neunzigerjahren ein Kaktusblütensammler von sich reden machte, dem zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit Ferdinand Maria Blüthen nicht
abgesprochen werden konnte. So ist Blüthen, wie so mancher deutsche Dichter, völlig vergessen. Völlig vergessen? Nein! In einem kleinen Häuschen am Ende unserer Straße wohnt er, Joachim Nießwurz, der
letzte Blüthenleser.