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Leseprobe Herr Keller verpuppt sich

 

 

Vogelfrei

 

Es war eine unglaubliche geistige Verirrung, als man vor Jahrzehnten propagierte, die Menschen seien alle gleich. Sie sind verschieden. Mehr noch: Ihre Verschiedenheit ändert sich von Tag zu Tag.

Mit eiserner Selbstdisziplin hatte ich mich hochgearbeitet, hatte meine Platzziffer immer weiter verbessert, war hinaufgeklettert in die Ränge der Auserwählten, der Privilegierten. Jeden Monat hatte ich meine neue Rangkarte studiert, mit der alten verglichen und leuchtenden Auges festgestellt, dass ich wieder einen Sprung um einige hundert oder gar tausend Plätze nach oben gemacht hatte.

Und nun das! Der Bevölkerungscomputer musste verrückt geworden sein! Zwar – mein letztes Theaterstück war ein Flop gewesen. Man hatte das Positive vermisst. Viel Philosophie und wenig Action, das kam nicht an beim Publikum der 2. Kategorie. Aber war das ein ausreichender Grund für einen solchen Absturz? Platz 11315! Zitternd legte ich die Rangkarte aus den Händen. Ich brauchte dringend eine Stärkung.

Als ich mein Café betreten wollte, meldete sich der Piepston meines Peilsenders. Die Wegekontrolle. Was war nun wieder los?

„Dieses Areal ist für Personen der 2. Kaste verboten!“, schnarrte es aus dem Apparat. „Bitte kehren Sie um!“ Natürlich, nun gehörte ich nicht mehr den oberen Zehntausend an, der ersten, der privilegierten Kaste. Ich war in die niederen Ränge gefallen, eingetaucht in die Masse der Anonymität. Das bedeutete: andere Lokale, andere Kleider, andere Verkehrsmittel, andere Kinos und Theater, andere Sportplätze und Vergnügungen, andere Urlaubsziele, einen anderen Friseur, einen anderen Arzt, einen anderen Psychologen, eine andere Freundin, einen anderen Speisezettel – ich würde mich umstellen müssen!

Zurück in meinem Pilzhaus über der Smogwolke stellte ich fest, dass meine Habseligkeiten bereits abtransportiert worden waren. Ich hatte nichts anderes zu tun, als ihnen nachzureisen. Leider nicht mit der Privatkabine, denn eine solche stand mir nicht mehr zur Verfügung. Ich musste die öffentlichen Förderbänder benützen. Ich steckte die Diskette, die ich in meinem Briefkasten gefunden hatte, in den Computer, und der Schirm zeigte mir genau, wo ich auf ein anderes Band umsteigen musste.

Meine neue Wohnung befand sich im 6. Stockwerk eines „Bienenkorbs“. Leider war das Stadtviertel so in eine Smogwolke gehüllt, dass ich erst hinter der Filtertür meinen Gashelm abzunehmen wagte. Die mir vom Bevölkerungscomputer zugeteilte Lebensgefährtin war schon da. Nicht gerade hässlich. 10 Jahre jünger, 10 Intelligenzpunkte weniger, 10 Zentimeter kleiner, 10 Ranglistenplätze unter mir, 10 EEE (Erotische Energieeinheiten) mehr. Damit konnte man leben.

Mein – ebenfalls neuer – Psychologe, den ich turnusgemäß einige Stunden später konsultierte, war überrascht, mit welcher Fassung ich meinen sozialen Abstieg trug.

„Ihre psychische Konstitution ist bewundernswert“, sagte er. „Vielleicht hilft sie Ihnen wieder um einige Punkte nach oben. Der Sprung in die 1. Kaste ist zwar schwer, aber nicht unmöglich.“

Ich wusste, dass er log. Es war ungeschriebenes Gesetz, dass ein Absteiger nie mehr in seine frühere Kaste zurückkehren durfte.

„Auch in meiner jetzigen Position lässt es sich aushalten“, grinste ich zurück und dachte an meine neue Partnerin. „Wenn nur der immer gleiche Speisebrei aus undefinierbarer Biomasse mit den immer gleichen Geschmacksvarianten nicht wäre!“

Mein Gegenüber nickte verständnisinnig. Seine Karte am Rockaufschlag wies ihn als Elftausender aus. Er gehörte also zur selben Rangkategorie wie nunmehr auch ich.

„Mit etwas Erfahrung werden Sie schon noch lernen, die Einheitsnahrung geschmacklich aufzubessern“, tröstete er mich. Irgend etwas irritierte mich. Er hatte gelogen, und doch blieb sein Wahrsender, gesteuert von einem sensiblen Elektrodensystem, wie es jeden unserer Körper umspannte, stumm. Kein Piepston. Kein Lichtsignal.

Sollte er einer aus jenem Heer mit den fingierten Rangkarten sein, die sich in Wirklichkeit außerhalb jeder Kastenordnung befanden? Einer von denen, die direkt jener unbekannten Macht unterstanden, die uns alle lenkte? Die vielleicht selbst diese Macht repräsentierten?

Meine neue Arbeitsstelle war im Forschungsinstitut für mentale Energie. Der Peilsender führte mich in das schachtelähnliche Gebäude am Rande der Stadt, und dann befand ich mich mit tausend Personen der 2. Kategorie (Arbeiter der 3. Kaste waren für mentale Energiegewinnung nicht mehr geeignet) in einem riesigen Raum, eifrig darum bemüht, mittels geballter Konzentration ein Klavier in die Luft zu heben. Diese Versuche seien eminent wichtig, wurde uns erklärt. Mentale Kraft sei die Energieart der Zukunft. Ich wusste nicht, warum, aber ich wurde den fatalen Gedanken nicht los, dass es gar nicht um das Klavier ging, sondern dass man unsere tausendfache geistige Kraft für andere, mir unbekannte Zwecke missbrauchte. Auf jeden Fall war ich nachher so schlapp, als hätte man mir einen Liter Blut abgezapft.

Als ich abends nach Hause kam, empfing mich Luzifer (so hieß meine neue Lebensgefährtin) mit vor Schreck weit geöffneten Augen. Im Bad hätte sie ein metallenes Tier gefunden, das einem Skorpion ähnelte. Ich erkannte auf den ersten Blick, um was es sich handelte, und erbleichte ebenfalls.

Dies war ein Auftrag. Eine Botschaft, der ich nicht entrinnen konnte. Wer hatte mir die Drahtschere zugespielt? War es jene anonyme Allgewalt, war es der „Große Bruder“, der uns alle lenkte? Waren es jene – ebenfalls anonymen – Kräfte im Untergrund, die Kräfte des Chaos, der Revolution, diese gärende Masse, auf der unser Gesellschaftssystem schwamm wie eine Arche auf brodelnder Magma? Waren die Revolutionäre in den Labyrinthen unter der Stadt gar ein Teil jener Allgewalt, ein legitimer Ableger des Systems, eine immer wieder aufgerissene Wunde in einem nie endenden Heilungsprozess?

Zitternd ergriff ich das Werkzeug und befreite mich von allem, was mich bisher an die Gesellschaft gebunden hatte: Ich zerschnitt das Drahtnetz meines Wahrsenders, entfernte die Sensoren, durchtrennte die Kabel de Peilsenders, mit dem ich – wie an einer unsichtbaren Nabelschnur – an dem zentralen Überwachungs- und Leitsystems hing, riss mir die Platzziffer vom Rockaufschlag.

Nun war ich frei, vogelfrei. Ein Geächteter, ein Gejagter.

Ich nahm nichts mit, keinen Koffer, keine Manuskripte, nur mein gefährdetes Menschsein brachte ich ein in das neue, noch unbekannte Leben in den Katakomben der Stadt.

 

Aktuelles

Lesungen Termine 

siehe www.landsberger-autorenkreis.de

  

 

Marionettentheater

"Am Schnürl" im TaG Theater Kaufering, Lechfeldstr. 40.

 

siehe www.amschnuerl.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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