Leseprobe Wirtshaus im Sachsenrieder Forst
Die Zauberfeder
Ein goldener Vogel fliegt über das Land. Schau, da wirft er eine Feder ab! Die Feder, vom Wind getragen, schaukelt hierhin und
dahin, dann legt sie sich auf den Weg. Die Feder ist eine Zauberfeder. Wer sie in die Hand nimmt und sich etwas dabei wünscht, dessen Wunsch geht in Erfüllung.
Kommt der Königssohn daher auf stolzem Ross.
„Was schert mich die Feder auf der schmutzigen Erde!“, ruft er. „Nach dem Vogel
steht mein Sinn!“
Er holt einen Pfeil aus dem Köcher und legt auf den goldenen Vogel an, trifft
aber nicht. Da gibt er seinem Pferd die Sporen und prescht davon, eine Wolke von Staub hinterlassend.
Kommt Assessor Schienbein des Weges. Er schwenkt einen Spazierstock und trägt
ein Bäuchlein vor sich her.
„Oh, eine Feder!“, sagt er. „Wie hübsch!“ Aber er bückt sich nicht, und er
wünscht sich auch nichts.
Kommt Sebastian Sauerklee des Weges. Sebastian ist
Landschaftsdichter.
„Welch ein wunderbarer Fund!“, ruft er, wirft sich ins grüne Gras, holt flugs
Papier und Tintenglas aus seinem Schnappsack, taucht die Feder ein und schreibt ein Gedicht:
Ich ging ganz ohne Absicht duch die Wiese
und suchte nichts dabei, da fand ich diese
Feder, klein und unscheinbar und zart,
die zum Gedicht mir unversehens ward.
Sebastian streut etwas Ackersand auf das Blatt, rollt es zusammen und setzt mit
beschwingtem Schritt seine Wanderung fort. Gewünscht hat er sich nichts. Was hätte er, dem ein so vorzügliches Gedicht gelungen, sich auch wünschen sollen!
Kommt der Stoffel des Weges. Er ist auf dem Weg vom Stoffelsberg nach
Holzenhausen. Er wünscht sich schon etwas.
„Ich wünsche mir, dass die Sonne scheint, dass die Blumen blühen, dass die
Vögel singen“, ruft er und hebt die Feder vom Boden auf. Mehr wünscht er sich nicht, und auch das hätte er sich nicht zu wünschen brauchen, denn die Sonne strahlte bereits vom blauen Frühlingshimmel,
die Löwenzähne leuchteten wie gelbe Sterne auf der Wiese, und die Lerchen stiegen jubilierend zu den Wolken hinauf. Stoffel legt die Feder auf seinen Handrücken und pustet fest darüber. Da fliegt sie
davon, hinein in den wilden Rosenstrauch.
Dort findet sie der Stieglitz. Er zupft die Feder mit seinem spitzen Schnabel
aus den Dornen und flicht sie in sein Nest, damit seine jungen Küken weich und sanft darin liegen. Was er sich wünscht mit seinem „düdelit“ und „digelit“? Wer weiß das. Wir kennen ja die Vogelsprache
nicht.
Und du, wenn du eine Feder auf dem Weg findest, und es ist eine Zauberfeder,
die der goldenen Vogel verloren hat, so hebe sie auf und vergiss nicht, dir etwas zu wünschen.