Reise eines Bleistifts
Es war einmal ein Bleistift, der wollte verreisen. Aber wo kann ein Bleistift
unterwegs sein? Auf einem Blatt Papier. Auf einem leeren, weißen Blatt Papier, das vor ihm liegt.
„Ich werde über dieses Papier reisen“, sagte der Bleistift, er hieß mit
Familiennamen Faber Nummer drei. „Zuerst brauche ich ein Haus, in dem ich wohne, denn von irgendwo muss ich ja losfahren.“
Und er malte ein schönes Haus, mit Dachziegeln und Fensterläden und
Schornstein, und natürlich eine Haustüre und einen Gartenzaun und ein paar Blumen dahinter. Dann ging er los. An dem langen, gewundenen Pfad, den er sich malte, blühten Wegwarten und Margeriten,
wuchsen Birken und Weiden. Auch ein Bach war da mit Binsen und dichtem Schilf, und eine Brücke, die über das glitzernde Wasser führte. Schließlich erreichte der Stift, schon etwas müde, das Dorf im
Tal mit den behäbigen Bauernhöfen und der dicken Kirche und dem zwiebelförmigen Kirchturm. Hier ruhte sich unser Faber Nummer drei erst einmal aus und blickte den Weg zurück, den er bisher gegangen
war.
„Ein hübsches Stück Weg“, meinte er. „Und irgendwie idyllisch. Man kann sagen,
was man will, hier ist die Welt noch in Ordnung.“ Aber dann wollte er wieder weiter.
Hinter dem Dorf waren die Hügel, hinter den Hügeln die Berge, und hinter den
Bergen noch höhere Berge. Das war der ferne Horizont. Weiter ging es nicht. Oder doch?
„Ich will doch wissen, was hinter dem Horizont ist“, sagte der Bleistift und
hüpfte, hast du nicht gesehen, über die Berge hinweg. Und dann begann er plötzlich zu rollen, denn hier war das Papier zu Ende. Er rollte und rollte, ihm wurde ganz schwindelig zumute, alles drehte
sich, er sah nur mehr rote und gelbe und grüne Kreise, er rollte und rollte über die Schreibtischplatte und über die Kante des Tisches. Und dann fiel er hinunter auf den
Fußboden.
Da war eine versteckte Ecke des Zimmers, zu der nie jemand kam. Selbst die
Putzfrau übersah sie. Und der Bleistift würde wohl heute noch einsam und vergessen dort liegen, wenn nicht die zwei Augen gewesen wären. Zwei Augen, die die Zeichnung auf dem Blatt Papier
entdeckten.
„Wie schön!“ sagten die Augen. „Eine Landschaft zum Spazierengehen.“ Sie
folgten dem Weg, den auch der Bleistift gegangen war (allerdings viel schneller, denn Augen können sich pfeilgeschwind bewegen). Sie flogen vom Haus mit den Fensterläden den Bach entlang zum Dorf,
dann zum Wald hinter dem Dorf, dann über die Hügel und hinauf in die Berge. Und, hast du nicht gesehen, hüpften sie über den Horizont und blickten tatsächlich über die Schreibtischkante hinunter auf
den Fußboden. Da sahen sie ihn liegen, den Faber Nummer drei.
„Da ist ja der Bleistift, den du schon so lange vermisst!“, sagten die Augen
zum Besitzer des Zeichengeräts. „Herauf mit ihm auf den Schreibtisch, wie es sich gehört!“
Da liegt er nun, frisch gespitzt, und wartet. Auf was wartet er? Natürlich auf
ein neues, weißes Blatt. Denn was gibt es für einen Bleistift Schöneres, als eine Reise zu machen! Eine Reise über ein neues, leeres Blatt Papier.