Ein Hamsterwinter
Den ganzen Herbst über hatte Gregorovius der Alte Körner und Wurzeln und Nüsse
und Früchte gesammelt. Die unterirdischen Vorratslager waren bis obenhin gefüllt. Jetzt, wo die Schneewolken dunkel am Himmel standen und die ersten Nachtfröste drohten, zog sich der Hamster, nicht
ohne den letzten warmen Sonnenstrahl mitzunehmen, der sich wie ein glänzender Falter auf die weiße Rinde der benachbarten Birke gesetzt hatte, in seine unterirdische Behausung zurück. Die
Eingangslöcher wurden sorgfältig mit Heu und Stroh abgedichtet, dass auch nicht der Hauch eines kalten Luftzuges hereindringen konnte.
Wer aber nun glaubte, dass Gregorovius einen langen und langweiligen
Winterschlaf halten würde, der täuschte sich. Er saß vielmehr, die Brille auf der Nase, in seinem Lehnstuhl und erledigte all die Lese- und Schreibarbeit, die während der aufregenden Sommermonate
liegen geblieben war. Nun harrten fünfzehn Kreuzworträtsel auf ihre Lösung, mussten die letzten drei Ausgaben der Financial Times studiert werden, ein Antwortbrief an seine Cousine im Maisfeld war
schon lange überfällig, und auch an seinen Memoiren wollte der Alte ein wenig weiterarbeiten.
Ab und zu kriegte er Besuch. Die Spitzmausfamilie von
nebenan.
„Lass uns ein wenig aufwärmen“, sagte die Mäusemutter. „Meine Kleinen sind
schon ganz steifgefroren. Es ist doch gar zu nass und kalt draußen.“ Da stellten sich die kleinen Novembermäuse unter den warmen Sonnenstrahl und wärmten sich auf und ließen sich auch einige
Kellerasseln und Tausendfüßler aus den Speisekammern schmecken, bis sie wieder völlig erholt, gesund, satt und putzmunter waren.
Manchmal, an langen Winterabenden, schaute auch der Maulwurf Schwarzrock
vorbei. „Draußen liegt Schnee“, sagte er. „Der Wind heult über das Land. Wie wäre es, wenn wir eine Partie Tier ärgere dich nicht spielen?“ Da machte Gregorovius der Alte mit Hilfe des Sonnenstrahls
und eines dicken Brennglases Feuer im Ofen und braute einen kräftigen Grog. Und dann spielten sie, bis ihre Augen vom Grog ganz glasig waren, und bis draußen der Morgen
anbrach.
Eines Tages kratzte es heftig an der Türe. Es war Minnie, das
Wühlmausmädchen.
„Rette mich!“, piepste sie in höchster Not. „Der Mäusebussard ist hinter mir
her!“ Dann fiel sie auf den Rücken, streckte alle vier Beine, acht Schnurrbarthaare und den Mäuseschwanz von sich und rührte sich nicht mehr. War sie tot? Aber nein! Nach einer gründlichen
Herzmassage und intensiver Mund-zu–Mund–Beatmung (Gregorovius war in seiner Jugend Helfer beim Rettungsdienst Roter Klatschmohn gewesen) bewegte sie sich wieder und schlug die schwarzen
Mäuse-Kulleraugen auf.
„Bin ich jetzt im Mäusehimmel? Oder im Bussardbauch?“, lallte
sie.
„Du bist in Sicherheit“, sagte Gregorovius. Mit einem Schluck aus der
Rumflasche und einigen ausgewählten Körnerdelikatessen aus der Speisekammer päppelte er Minnie wieder auf.
„Darf ich ein Weilchen bei dir bleiben?“, fragte das Mäusemädchen. „Bis ich
mich wieder erholt habe und der Bussard auf andere Gedanken gekommen ist?“
„Aber natürlich“, nickte der Hamster. „Du kannst mir die Zeit vertreiben in den
langen Winternächten.“
Die ausgehungerte Wühlmausdame vertrieb ihm aber nicht die Zeit, sondern
quartierte sich in der hintersten Speisekammer ein und machte sich sogleich über die Vorräte her. Sie fraß und fraß, bis sie so fett war, dass sie kaum mehr laufen konnte. Zum Glück hatte der Hamster
noch drei andere Speisekammern, deren Schlüssel er jeden Tag abzog und unter dem Bettvorleger versteckte, sonst hätte Minnie auch diese Kammern noch leergefressen. Erst als die Speisekammer ratzeputz
leer war, verließ sie die gastliche Wohnhöhle und kletterte mühselig ans Tageslicht hinaus.
Eines Tages, draußen hatte es Stein und Bein gefroren, und der Wind hatte einen
hohen Schneeberg hinter dem Holunderbusch aufgeweht, schaute das weiße Hermelin zur Türe herein. Es wollte Gregorovius dem Alten aber keinen freundschaftlich-nachbarlichen Besuch abstatten; aus
seinen Augen blitzte die reinste Mordlust.
„Ich rieche Mäusefleisch“, zischte es.
„Hier ist nirgendwo eine Maus“, rief Gregorovius und dachte zitternd an Minnie
in der hinteren Speisekammer (damals hauste die kleine Wühlmaus noch bei ihm).
„Es riecht nach Minnie, der Wühlmaus!“, rief das Hermelin. „Irrtum
ausgeschlossen. Das Biest ist mir schon einmal entkommen. Ein zweites Mal soll sie mir nicht entgehen. Ich habe nämlich einen gewaltigen Hunger, und Wühlmausmädchen sind meine
Leibspeise.“
„Untersteh dich, näher zu kommen!“, zischte der Hamster und stellte sich ihm in
den Weg. „Das ist Hausfriedensbruch!“
„Mundraub!“, lachte das Hermelin und zeigte seine nadelspitzen Zähne. „Und wenn
du mir nicht aus dem Weg gehst, fahre ich dir an die Gurgel, dass es staubt.“
Gregorovius besaß auch scharfe Nagezähne. Das wäre ein Kampf geworden! Aber der
Hamster wusste etwas Besseres. Er riss den Sonnenstrahl von der Wand und schlug damit auf den Angreifer ein, direkt auf die feuchte, schnuppernde Nase. Da gingen die hermelinischen Schnurrbarthaare
in Flammen auf, und die Nase begann zu dampfen und zu zischen. Und weil sie bekanntlich das empfindlichste Körperteil des weißen Wiesels ist, flüchtete der mordgierige Eindringling heulend und
jaulend nach draußen und war nie mehr gesehen.
Und dann kam der Frühling, und der Wind leckte mit warmer Zunge den Schnee von
den Feldern, und die Krokusse und die Leberblümchen und die Veilchen und die Schlüsselblumen hoben ihre bunten Köpfchen und schauten in den hellen Tag hinein. Da hielt es auch Gregorovius den Alten
nicht mehr in seinem muffigen Bau. Die Speisekammern waren, von ein paar zerknautschten Strohhalmen abgesehen, völlig leer. Der Hamster steckte den Kopf zur Türe hinaus und blinzelte mit seinen
kurzsichtigen Augen gerade in die warme Frühlingssonne.
„Jetzt brauche ich ihn nicht mehr“, sagte er. Holte den Sonnenstrahl, der
inzwischen schon ganz schwach geworden war und nur mehr in einem matten Dunkelrot leuchtete, von der Wand, zerbröselte ihn in kleine Stücke und streute sie auf den Platz vor seinem Hamsterbau. Da
kamen die Rotkehlchen aus dem Holunderbusch und fraßen und fraßen. Dunkelrote Sonnenstahlen sind nämlich ihre Lieblingsspeise.
Und das ist auch der Grund, weshalb die Unterseite ihres Halses von so
lieblichroter Farbe ist.