Die zwei Stiefel
Die Flügel der Mühle drehten sich lustig im Wind, das Wasser rauschte und
brauste und schäumte ins Tal hinunter, der Kuckuck rief „Guck in die Luft!“, und die Kiebitze schrien „Komm mit! Komm mit!“
Da hielt es auch die Stiefel, die unter der Bank neben der Türe standen, nicht
mehr zu Hause. Sie glätteten noch einmal ihre Schuhsohlen, fetteten die Schäfte ein, warfen einen flüchtigen Blick auf die Wanderkarte (1 : 50 000), und zogen in die
Ferne.
„Wohin führst du?“, fragten sie den Weg, der an der Mühle
vorbeilief.
„Ich führe nirgendwohin“, sagte der Weg. „Ich liege nur da und bin platt und
lang.“
„Und wo ist dein Ende?“, fragte der linke Stiefel.
„Das weiß ich nicht“, sagte der Weg. „Wir haben uns etwas entfremdet, ich und
mein Ende. Geht nur einfach drauflos, dann werdet ihr es schon erfahren!“
Das ließen sich die Stiefel nicht zweimal sagen. Nach einiger Zeit kamen sie an
eine Stelle, wo ein schmaler Pfad kreuzte, der in die Felder hineinführte.
„Der Pfad ist sehr romantisch. Dahin werden wir gehen!“, sagten die Stiefel. In
den Feldern trafen sie auf eine Vogelscheuche. „Nehmt mich mit!“, rief die Scheuche. „Dann habt ihr einen Hut und einen Kopf und einen Bauch! Und ich habe zwei Stiefel. Wir passen wunderbar
zusammen!“
Als aber die Stiefel die Scheuche von ihrem Pfahl, mit dem sie in der Erde
befestigt war, befreien wollten, erhob sich ein lautes Geschrei und Gezeter und Gepiepse. Unter dem Hut hatte nämlich ein Spatzenpaar sein Nest, und fünf winzige Dreckspatzen waren gerade aus den
Eiern geschlüpft. Und im strohgefüllten Bauch hauste ein halbes Dutzend Zwergspitzmäuse, und aus dem linken Ärmel der Vogelscheuche schaute der Siebenschläfer heraus, der hier den Winter verbracht
hatte.
„Willst du mir mein Obdach nehmen?“, schimpfte er mit gesträubten
Schnurrbarthaaren.
„Lässt du es zu, dass wir heimatlos werden und unsere armen Kinder betteln
gehen müssen?“, jammerten die Zwergspitzmauseltern.
„Willst du, dass unsere unmündigen Kleinen aus dem Nest fallen und von der
Katze gefressen werden?“, zeterten die Spatzen.
Da ließen die Stiefel die Vogelscheuche stehen, wo sie war, und wanderten
weiter.
Nach einiger Zeit trafen sie einen Soldaten.
„Aha, zwei tüchtige Stiefel!“, freute sich der Soldat. „Bleibt bei mir, ich
will in den Krieg ziehen. Ihr erhaltet einen fetten Sold und dürft dem Feind in den Hintern treten, falls wir den Krieg gewinnen. Und vielleicht werden wir sogar tapfere Helden, alle drei
miteinander.“
„Abenteuer erleben. Held sein. Das ist einmal etwas anderes“, sagte der linke
Stiefel zum rechten. „Da wollen wir bleiben!“
Aber da fuhr aus dem Rucksack des Soldaten der Teufel heraus, und aus seinen
Augen schaute der Tod. „Da heißt es Marschieren durch Schlamm und Schlick, immer im Gleichschritt, ganz ohne Ruh“, zischte der Teufel. „Müsst die Feinde umbringen von hinten und von vorne, wie es
sich gerade schickt.“
„Werdet gar selber von einer Kugel getroffen auf dem Schlachtfeld. Und dann ist
es aus mit Marschieren, Liedersingen und Heldentum“, knarrte der Tod und schaute ganz grauenvoll und unheimlich.
„In den Krieg ziehen wollen wir nicht“, sagte der rechte Stiefel zum linken.
„Was scheren uns Tod und Teufel und feindliche Armeen! Wir wollen frei sein und lustig und dahin gehen, wo es uns gefällt. Und wohin uns unsere Sohlen tragen.“
Kamen sie in eine Stadt vor ein Schuhgeschäft. Schauten das prächtige
Schaufenster an. Was gab es da nicht alles zu sehen! Herrliche Schuhe: Halbschuhe und Hausschuhe und Sandalen und Handschuhe und Filzpantoffel und Haferlschuhe und Walkingschuhe und Skaterschuhe und
Outdoorschuhe und Indoorschuhe und Förderschuhe und Teilhauptschuhe. Und verführerische, schlanke Damenschuhe mit schwindelerregend hohen Absätzen, und an jedem Paar stand ein Preisschild, denn man
konnte sie kaufen.
„Bleibt bei uns!“, riefen die Schuhe den beiden Stiefeln zu. „Hier seid ihr in
guter Gesellschaft, wohlerzogen, pflegeleicht, fußfreundlich und atmungsaktiv. Wir warten hier in unseren Schachteln, und mancher Fuß probiert uns, und irgendwann werden wir dann gekauft und dürfen
hinaus in das Leben und in die Freiheit.“
„Wollen wir bleiben?“, fragte der linke Stiefel den rechten und schaute
verliebt auf ein Paar hochhackiger Damenschuhe. Aber da kam schon der Besitzer des Schuhladens herbeigeeilt.
„Fort mit euch!“, schimpfte er. „Hergelaufenes Pack, ungeputzt und dreckig!
Tragen mir nur Schmutz in den Laden. Verzieht euch, geht in einen Secondhandshop! Hier gibt es nur erstklassige, ungebrauchte Ware!“ Und schon packte er die beiden Stiefel, einen links und einen
rechts, und warf sie auf die Straße hinaus.
„Knirsch, knirsch!“, sagte der rechte Stiefel zum linken. „Er behandelt uns wie
heimatloses Gesindel. Wo wir uns doch zuhause sogar einen Stiefelknecht leisten konnten!“
Am Stadttor trafen sie auf einen Bettler. Er trug zerlumpte Kleider, und seine
Zehen waren mit Fetzen umwickelt. „Bleibt bei mir!“, rief er, als er die Stiefel über das Pflaster humpeln sah. „Ich verspreche, euch in Ehren zu halten, jeden Tag sauber zu putzen, und wenn ihr Wert
darauf legt, werde ich mir sogar gelegentlich die Füße waschen.“
Was wollten die beiden Stiefel mehr? Sie mussten sich nicht lange besprechen.
Sie schauten sich nur kurz an, nickten mit den Schäften und schwupp, waren sie an die Füße des alten Mannes gehüpft. Und siehe da! Sie passten wie angegossen. Und alle waren´s zufrieden. Die Stiefel
hatten nun einen neuen Herrn, und der Bettler hatte nie mehr kalte Füße.